60 Jahre Euratom und das Desaster an unseren Grenzen

Ein Beitrag unserer Bundetstagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl in SüdwestGrün Nr. 10 / 18. WP – April 2016

Das Geburtstagsständchen „Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst…“ singen wir dem antiquierten Euratom-Vertrag nicht. Ist das bei seiner Gründung im Jahr 1957 schon absurde Ziel, „die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen, welche die Energieerzeugung erweitert, die Technik modernisiert und auf zahlreichen anderen Gebieten zum Wohlstand ihrer Völker beiträgt“ doch unverändert geblieben.

Atomkraft ist gescheitert – vor allem an sich selbst

Die Vorstellung von der Atomkraft als einer sauberen und sicheren Energiequelle ist längst gescheitert – am Widerstand der Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht für dumm verkaufen ließen, an besseren Alternativen wie den Erneuerbaren Energien, vor allem aber an sich selbst. Die Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima, Berge von hochradioaktivem und über Millionen Jahre strahlendem Müll, und schließlich auch die schlechte wirtschaftliche Rentabilität haben es jedem, der sehen will, gezeigt: Atomkraft ist vor allem eine teure, unbeherrschbare Hochrisikotechnologie, die Mensch und Umwelt krank macht, über Jahrtausende nachwirkt und damit der wahrscheinlich größte Irrtum in der Geschichte der Menschheit. Der Deutsche Bundestag hat daraus fraktionsübergreifend am 30. Juni 2011 die richtige Konsequenz gezogen und diesmal auch mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP den Atomausstieg beschlossen.

Euratom fördert den Ausbau von Atomkraft…

Noch kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit bewilligte die letzte EU-Kommission mit tatkräftiger Unterstützung des damaligen Energiekommissars Günther Oettinger am 8. Oktober 2014 staatliche Beihilfen für den britischen AKW-Neubau Hinkley Point C. Die Kommission stützte sich dabei auf das Förderungsziel, das dem Euratom-Vertrag zu Grunde liegt. Dort heißt es, Mitgliedstaaten müssten Investitionen erleichtern und die Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherstellen, die für die Entwicklung der Kernenergie in der Gemeinschaft notwendig seien. Mehrere Energieunternehmen klagen nun wegen der wettbewerbsverzerrenden Wirkung auf dem europäischen Strombinnenmarkt und der Benachteiligung anderer Stromerzeuger gegen die Entscheidung. Von staatlicher Seite wurde eine Nichtigkeitsklage von Österreich und Luxemburg beim Gerichtshof der Europäischen Union eingebracht. Die Bundesregierung lehnte 2014 zweimal die grüne Forderung ab, sich diesem Klageverfahren anzuschließen oder eine eigene Klage zu erheben. Immerhin hat das Espoo-Komitee meiner Beschwerde wegen fehlender grenzüberschreitender UVP stattgegeben. Das muss Großbritannien nun nachholen. Die Bundesregierung vertut leider die Chance zum Atomausstieg in Europa beizutragen. Anfang dieses Monats ging es entsprechend weiter: die EU-Kommission bewilligte staatliche Beihilfen für den Bau zweier Reaktoren im ungarischen Paks und bezog sich erneut auf den Euratom-Vertrag. Auch die Entscheidung der Kommission staatliche Beihilfen für den Langzeitbetrieb der belgischen Reaktoren Tihange 1 sowie Doel 1 und 2 gut zu finden, fiel in diesen Monat.  Hier zeigt sich eine Grundhaltung der Kommission, die uns ein nachhaltiges Problem bescheren wird, denn viele Länder planen Laufzeitverlängerungen ihrer Atomkraftwerke. Die Störanfälligkeit und damit Gefährlichkeit von AKW steigt aber nach circa 30 Jahren mit jedem weiteren Jahr steil an.

… und verhindert Mitsprache

Euratom begründet die souveräne Entscheidungsgewalt der Staaten bei der Nutzung der Atomkraft. Doch anders als die Atomaufsicht stoppt die radioaktive Wolke an der Grenze nicht. An Deutschlands Grenzen stehen besonders viele Schrottreaktoren wie die belgischen Rissemeiler Tihange 2 und Doel 3, das weltweit älteste Schweizer AKW Beznau mit ähnlichen Befunden und die französischen Altmeiler Fessenheim und Cattenom, die weder gegen Überflutung noch Erdbeben ausreichend geschützt sind. Anrainerstaaten wären zwar vom GAU betroffen, dürfen bei Sicherheitsfragen aber nicht mitreden. Das ist schon seit der Erfahrung der über Europa ziehenden Wolke aus Tschernobyl nicht mehr akzeptabel.

Energieforschung: Wiedereinstieg ins Atomzeitalter via Euratom

Euratom ist undemokratisch und intransparent. Das Europäische Parlament verfügt über keinerlei Entscheidungsrecht beim Euratom-Budget. Die Ausrichtung der europäischen Energieforschung wird von Euratom gesteuert, ohne Beteiligung des Parlaments. Schließlich muss das Ziel von Euratom – die „mächtige Kernindustrie“ – am Leben gehalten werden. Auch das Ausstiegsland Deutschland beteiligt sich über seine Euratom-Beiträge daran, immense Summen an Steuergeld für Forschung an Kernfusion, Transmutation und Reaktoren der IV. Generation auszugeben – Technologien, deren Anwendung in Deutschland den Wiedereinstieg in die Atomkraft bedeuten würde. Das gefräßigste dieser Projekte ist ITER. Ein Kernfusionsreaktor, der gemeinsam von der EU, den USA, Russland, China, Indien, Japan und Südkorea im französischen Cadarache gebaut werden soll. Die Kostenschätzungen sind von 4,6 Milliarden Euro im Jahr 2001 auf mittlerweile rund 20 Milliarden gestiegen. Zeitliche Verzögerungen, Missmanagement und mangelnde Transparenz sind an der Tagesordnung. Wenn überhaupt, dann wird diese Technologie frühestens im Jahr 2050 einsatzreif sein. Bis dahin werden wir unsere Energieerzeugung längst vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt haben müssen. Wind- und Sonnenstrom werden dann unschlagbar günstig sein. Die zentrale, schlecht regelbare Großstromerzeugung von Fusionsreaktoren ist schon heute nicht mehr zeitgemäß. Die Bundesregierung erklärt in ihrem Bundesbericht Energieforschung 2016 trotzdem: „Die Bundesregierung setzt zur langfristigen Sicherung der Energieversorgung in Deutschland auch auf die Fusionsforschung.“

Euratom endlich erneuerbar ausrichten

Klimakrise, Wirtschaftskrise und die Abhängigkeit von Energieimporten stellen Europa vor gewaltige Herausforderungen. Ein großer Schritt zu deren Bewältigung wäre eine gemeinsame Energiewende auf der Basis von Erneuerbaren und Effizienz. Die EU hat sich mit der Roadmap 2050 zum Ziel gesetzt, ihre Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Das Schielen auf Atomkraft zum Erreichen des Ziels verstellt dabei den Blick auf das tatsächlich Notwendige.

Eine Atom-Rolle rückwärts führt ins ökologische und ökonomische Desaster! Die Hochrisikotechnologie darf nicht weiter privilegiert und hofiert werden. Deswegen muss der Euratom-Vertrag endlich grundlegend reformiert werden. Der Brexit, für die EU ein historischer Rückschlag und tief zu bedauern, birgt durch den mit ihm verbundenen Austritt Großbritanniens aus Euratom aber immerhin eine Gelegenheit für Neuausrichtung und Verbesserung des Vertrags. Die Geburtsstunde eines zeitgemäßen Energievertrags für die EU wäre dann tatsächlich Anlass für ein fröhliches Lied.